Lost Chronicles

Normale Version: [BEENDET] The Missing Link
Du siehst gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
Seiten: 1 2
Viserion hatte sich in einer kleinen Höhle am südlichen Ende des Drachenfelsens zusammengerollt. Dank seiner schlanken Statur bot sie ihm genug Platz, wohingegen sie den größeren Drachen zu eng und daher lange unbewohnt gewesen war. Bei sonnigem Wetter schenkte ihm die goldene Scheibe hier auch ihre warmen Strahlen, der kleine Vorsprung vor dem Eingang bot ihm die Möglichkeit, diese, ebenso wie die Aussicht, in vollen Zügen zu genießen.

Der Jungdrache war erst vor wenigen Tagen am Drachenfelsen angekommen, eine lange Reise lag hinter ihm. Erst hatte er einen langen Flug durch die Weiten Vandriggs hinter sich gebracht, Stunde um Stunde, Tag um Tag, bis er endlich in Armandale angekommen war. Es hatte einen großen Aufruhr gegeben, als er zur Landung vor dem Sternentor ansetzte. Die Passanten, vornehmlich Händler und Reisende, schauten zu, dass sie reichlich Land zwischen sich und den Drachen brachten, wobei sie ihre Wagen und Habseligkeiten zurück ließen, sofern sie sich nicht leicht mitnehmen ließen. Die Wachen versuchten zumindest noch, diensteifrig ihre Pflicht zu tun, aber als seine Krallen beinahe den Boden berührten, zogen auch sie sich zurück. Alle, bis auf einen jungen Rekruten, der mit schlotternden Knie und käseweiß im Gesicht seinen Speer auf den Drachen richtete. Viserion faltete seine Schwingen zusammen, ehe er mit höflicher, jedoch für ein Wesen seiner Größe leiser, Stimme sagte „Seid gegrüßt. Ich bitte um Passage durch das Sternentor nach Aitheria. Ich muss zum Drachenfelsen, um mich dem Ordo Draconis anzuschließen.“ >Ähhhh…< war alles was der Mann hervor brachte, gleichzeitig drang jedoch ein scharfer Geruch an die Nase des Drachen. Die Blase hatte den Menschen ob der direkten Kontaktaufnahme des Drachen im Stich gelassen. Viserion wartet noch einen Augenblick, aber als er keine Antwort auf seine Bitte erhielt, machte er einen Schritt auf das Sternentor zu. Jetzt war es um den Mut des Wachposten endgültig geschehen gewesen und mit einem Satz gesellt er sich zu seinen Kameraden. Während Viserion das Tor passierte, hörte er hinter sich die Stimme des Kommandanten, der den Rekruten einen hirnlosen Eismulch nannte, den welcher Trottel stellte sich einem Drachen entgegen? Und ausserdem roch er wie ein Stinktier und sei eine Schande für seine Einheit. Irgendwie tat der junge Mann dem Drachen leid, er wusste doch aus eigener Erfahrung, wie erniedrigend solche Ansprachen sein konnten.
Dann war er auf der andern Seite auf Aitheria aus dem Tor getreten. Auch hier standen zahlreiche Menschen, die Wachdienst schoben. Doch im Gegensatz zu den Posten auf Vandrigg schienen diese hier sich vor ihm nicht zu fürchten. Viserion sagte erneut sein Sprüchlein auf und dann eskortierten ihn einige der Männer auf fliegenden Wesen zu einer kargen fliegenden Insel: der Drachenfelsen. Mittlerweile war Viserion von der langen Reise und der vielen Fliegerei schon ziemlich erschöpft und das Aufsehen, das seine Ankunft erregte, war ihm ob seiner Müdigkeit noch unangenehmer als sie es sonst schon wäre. Seine erste Nacht auf dem Drachenfelsen verbrachte er noch auf einer Felsplatte hinter der Festung aber am nächsten Tag schon suchte er sich eine, eben diese, Höhle. Die besten Sonnen- und Schlafplätze waren schon von den größeren und älteren Drachen besetzt und Viserion nahm instinktiv an, dass hier ähnliche, wenn nicht gar die selben, Regeln galten wie in seiner Heimatkolonie: die Stärksten hatten die besten Plätze und kamen zuerst ans Futter. Aber diese Höhle hier war perfekt, zumindest für den Anfang, denn wenn er größer würde, müsste er sich einen neuen Platz suchen. Aber das lag noch in weiter Zukunft.

An diesem Tag nun lag der Jungdrache in seinem neuen Zuhause und blickte in den Regen, der schon seit Stunden auf die fliegenden Inseln nieder ging. Das Gefühl, dass ihn hierher gezogen hatte, war schwächer, er war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen war aber irgendetwas fehlte ihm nach wie vor. Wenn er nur wüsste was. In seinem Bauch grummelte es und erinnerte ihn daran, dass es Zeit für die Fütterung war. In wenigen Minuten würden Rinder, Schafe und sonstige Nutztiere auf das Futtergelände getrieben werden und die Drachen krallten sich ihre Beute, der Hauch einer Jagd. Auch hier hatten die ranghohen Tiere eigentlich das Vorrecht aber wenn jemand wendig und schnell genug war, konnte er sich schon zu Beginn ein gutes Stück sichern. Viserion hatte von der langen Reise zwar nach wie vor schwere Flügel, doch er war dennoch schnell und wendig. Das jahrelange Dasein als Aussenseiter hatte ihn gelehrt, körperliche Beschwerden zu verdrängen. Er streckte sich ehe er auf das Felsenplateau hinaus trat. In der Ferne sah er eine Drachendame auf den Futterplatz zusteuern. An ihren Namen konnte er sich nicht erinnern, aber ihre goldenen Schuppen waren ihm gleich nach seiner Ankunft aufgefallen. Viserion stieß sich ab und steuerte ebenfalls auf die Festung zu. Das angsterfüllte Geschrei der Futtertiere drang an seine Ohren. Er flog in einem eleganten Bogen über den Platz, sah, wie sich einige der großen Drachen die fettesten Stücke krallten und freche kleinere mit scharfen Zischen und Fauchen zurecht wiesen. Am Rand der Lichtung versuchte eine Kuh, sich in Sicherheit zu bringen. Das war seine Beute, keiner der anderen beachtete sie. Viserion legte die Flügel an und lies sich nach unten fallen. Seine Krallen schlugen in das Fleckvieh, das noch ein letztes erschrockenes >Muh< von sich gab, ehe er ihr Genick brach. Dann schwang er sich wieder in die Luft, das Fleisch zwischen den Klauen der Vorderbeine. Er wollte sich in einiger Entfernung niederlassen, um in Ruhe zu fressen. Doch bei der Landung übersah er einen Dornenbusch und ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen linken Hinterfuß, als sich ein menschenfingerlanger Dorn in das empfindliche Fleisch zwischen den Zehen bohrte. Au! Das tat weh!
CF Far from Home


ice in his veins fire in his soul

//// Man hatte ihm tatsächlich eine Anstellung in den Ställen gegeben.
Überall um Teiresias herum schien seitdem das Lied seiner Freude mitzuschwingen, melodisch und köstlich, in dem diesen Tag die Töne des Regens mitschwangen – ganz gleich, was man ihm auch auftrug: er tat es voller Wonne. Er wollte jetzt, in allen Momenten leben, nicht in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Mit ganzem Eifer kehrte er die Gänge, mistete er aus und fütterte er die Tiere. Wenn er sich allein wusste, sprach er mit ihnen und flüsterte ihnen seine Geheimnisse zu, während er ihnen das Fell kraulte.
Man hatte ihm eine Anstellung in den Ställen gegeben.
Jedoch erst nachdem man ihn mit ähnlichen Fragen gelöchert hatte, wie Atevora zuvor – was ihn zum Drachenfelsen gebracht hatte, ob er glaubte hier etwas finden zu können, weswegen er mit seinem Aussehen ausgerechnet in den Ställen arbeiten wollte, was er bisher erlebt hatte, … zu seinem Bedauern fielen seine Antworten deswegen karg und aufsässig aus. Teiresias hatte sich nur einfach dazu entschieden störrisch zu sein, denn er ärgerte sich über sich selbst.
Er war nachlässig mit den Überlegungen zu seinen Beweggründen umgegangen und der Vorarbeiter hatte es bemerkt. Und so war es nicht verwunderlich, dass er keine der Fragen zu dessen Zufriedenheit zu beantworten schien und er hatte sich bereits wieder davon humpeln sehen, als man ihm jäh einen Platz auf dem Dachboden im Heu zuwies, wo er schlafen konnte. Wie grausam das Schicksal spielte … wie gut. Sein Gesicht brannte vor Scham und es konnte kaum eine Haut geben, die diesem Feuer standhalten konnte.
Es war, als wäre sein ganzes Sein nur auf dieses Ziel ausgerichtet gewesen, und alle Verzweiflung verschwand in dem Augenblick im wandelbaren Zwielicht seines Unterbewusstseins. Es ließ den jungen Halbdrachen milder werden, ein Zurückweichen, das nicht körperlicher Natur war, sondern ein Schließen, wie das der Lider, das Dämpfen der Angst, ein Abklingen der Panik. Er atmete auf.
Und so war es seither geblieben.
Auch die beharrlichen Fragen. Schwere Zeiten brachten stets das Beste hervor, davon war er überzeugt, wenn man an den Rand der Möglichkeiten gedrängt wurde und Kräfte in sich entdeckte, von deren Existenz man bis dahin nichts wusste. Teiresias war sich bewusst, dass er unter Beobachtung stand. Ob er nicht einmal versuchen wolle mit den Drachen zu sprechen … nein, neinneinnein. Hörner machten ihn nicht zu einem Drachenfreund. Sie nannten ihn Wilding und er verstand es nicht. Er wich den Blicken aus, allem, das ihm zu nahe zu kommen drohte, er suchte keine Freundschaften. Unauffällig und schweigsam und schüchtern kam er seiner Arbeit nach.
Was auch bedeutete, dass er manche seiner Schützlinge zum Futtergelände treiben musste.

Er bräuchte nicht bleiben, doch er blieb.
Es zog ihn ohnehin oft dorthin, wo die Giganten sich von den Felsnischen in die Himmel warfen, ihr Brüllen überzog seine Haut mit einem wohligen Schauer und ihre Erscheinung brachte seine Fantasie in Wallung, wenn er auf dem Bauch an der Felsenkante lag. Tag für Tag. Aus einer Nische in der Mauer heraus verfolgte er die Übungen des Drachenordens, nahm er sich manchmal im Stall einen Stock in die Hand, der zu seiner Waffe wurde, während er versuchte sie zu imitieren.
So oft es ihm möglich war saß Teiresias in der Nähe und vertilgte sein spätes Frühstück gleichsam der Drachen, die aus den Nischen herangeflogen kamen, um sich eines der Tiere zu krallen. Leider war er in den letzten Tagen zu sehr eingespannt gewesen, um auch nur daran zu denken zum Futterplatz zu gehen.
Da gab es das kleine Weibchen, das stets in Begleitung des feuerroten Speiers kam, den sie Numenor nannten, und sich immer in dessen Nähe hielt, während der Gigant seinen ersten Fang stets mit ihr teilte. Doch wenn der Graue kam, hielt Teiresias immer den Atem an – in dessen Augen lag größte Schlauheit, durchzogen von Gefräßigkeit.
Wie immer war des Jungen Gesicht eine Mischung aus Neugierde und Faszination. Er betrachtete die geflügelten Geschöpfe mit einer Mischung aus Ehrfurcht und stiller Verzweiflung. Und jedes Mal war es dasselbe. Ein Sehnen stieg in Teiresias auf und breitete sich aus wie blaue Flammen um einen Baum: er bekam eine flüchtige Ahnung davon, wie es sein könnte. Ein Verlangen nach Gemeinschaft, ein tiefes Drängen nach Vollkommenheit, nach einer Identität, die darüber hinausging, wenn er die Drachen und ihre Drachenreiter beobachtete.

Erschrocken setzte er sich auf und ließ sogar seine Stulle fallen, als in seinem Augenwinkel etwas Weiß aufblitzte. Es war jedoch nicht der Drache, der ihn gerettet hatte; erst als er richtig hinsah, bemerkte Teiresias, dass das Weiß von Rot durchbrochen und er im Wuchs noch recht klein war. Jener hielt sich klugerweise am Rand der Lichtung, wo sich eine der Kühe abseits drängte. Natürlich hieß das nicht, dass sie ihrem Schicksal entkommen würde können, denn der Neuankömmling hatte sie sich bereits als Beute auserkoren.
Als der gehörnte Junge sich erhob, war es, als folge er auf seltsame Art und Weise etwas, auf einen Ruf, einem eindringlichen Locken, das sowohl in seinen Sinnen als auch in seinem Blut widerhallte. Er war beinahe wie in Trance, als er dem Jungdrachen zu folgen begann, ohne überhaupt einen Gedanken zu verschwenden, was er sich davon erhoffte mit seinen Vorsätzen zu brechen. Es war gleich einem sanften Druck zwischen den Schulterblättern, als würde ihn eine Hand dort nach vorne drängen.
Auf der einen Seite war es ein schreckliches Gefühl, weil es ihn so lockte und rief, auf der anderen Seite war es wie eine Melodie, die sich im Gleichklang mit ihm befand. Erschreckend fremd und dennoch warm.
So sehr er zu Beginn nach vorne gehetzt war, um den Anschluss nicht zu verlieren, desto zögernder wurden seine Schritte zuletzt. Der weiße Drache entfaltete sich vor ihm wie ein schmelzender Schneestern. Teiresias sah, was geschehen war, als er in die Nähe kam – die Dornbüsche waren dort gepflanzt, um die Herdentiere innen zu halten. Grobe Gewächse mit langen, harten Dornen und kleinem Blattwuchs. Teiresias wagte sich nicht näher. Wahrscheinlich brauchte dieses schlanke Geschöpf seine Hilfe überhaupt nicht. Mit hängenden Armen und starrem Blick stand er da. Über sein Herz lief ein Schauer knackender Scheite, um es sich machtlos aufbäumen zu lassen.
Es war, als schaute man durch den Spiegel der Welt, wobei man niemals die ganze Herrlichkeit begriff, die darin lebte. Und Teiresias verstand, warum es gute Gründe für ihn gab, sich zu fürchten.
Ungeschickt versuchte Viserion, an seinen Hinterlauf und den vermaledeiten Dorn zu kommen, um diesen mit den Zähnen herauszuziehen. Doch es war vergeblich. Im Gegenteil, er trieb sich das blöde Ding nur noch weiter in die Haut und beinahe wäre er auch noch umgefallen. Das hatte er ja toll hinbekommen. Er dachte er wäre schlau, sich die Kuh vom Rand der Lichtung zu schnappen und sich dann hier in diesem Wäldchen zu verbergen, um in Ruhe zu fressen. Sich sozusagen direkt unter den Nasen der anderen verstecken. In der Kolonie hatte das immer ganz gut geklappt, auch wenn er den Verdacht nicht los wurde, dass seine Schwester oft nur zu genau gewusst hatte, wo er war. Warum sie ihn aber nie verraten hatte … er wusste es nicht. Überhaupt konnte er sich viele Verhaltensweisen Aristas nicht erklären: Ihm gegenüber war das Drachenweibchen abweisend und mitunter richtig grob, aber gleichzeitig schien sie ihn bis zu einem gewissen Punkt auch beschützen zu wollen – und wenn es nur dadurch war, dass sie nie zu wissen schien, wo die anderen ihn finden konnten. Oder sie dass sie sich in Rangordnungskämpfe stürzte, um von ihm abzulenken. Und auch ihr Spitznamen für ihn – Monsterchen - klang mitunter beinahe gleichgültig, was in seinen Augen einem liebevoll schon sehr nahe kam.

An all das dachte der Jungdrachen in diesem Moment aber in keinster Weise. Auch die Kuh, die er neben sich hatte fallen lassen, war gerade eher zweitrangig. In erster Linie wollte er nur aus diesem Dornengebüsch heraus … und dann den Dorn los werden. Auf drei Beinen versuchte Viserion, diesem feindlich gesinnten Gestrüpp zu entkommen, aber das war gar nicht so leicht, denn auch seine Federn blieben in den Ästen hängen. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, eine Träne zu unterdrücken, die ihm weniger vor Schmerz als vor Wut und Scham aufzusteigen drohte. Er hatte einfach nicht auf den Untergrund geachtet, wo er zur Landung ansetzte. Blöder, blöder Fehler! Vorsichtig hob er die Flügel weiter nach oben, um sich Schritt für Schritt aus seiner misslichen Lage zu befreien. Dabei hoffte er inständig, dass keiner der anderen Drachen, vor allem nicht die große rot-goldene Drachendame mit dem stolzen Blick und der schlechten Laune, die ihn immer ein wenig an seine Schwester erinnerte, ihn dabei beobachtete. Viserion war seinen Artgenossen in den ersten Tagen auf dem Drachenfelsen nach Tunlichkeit aus dem Weg gegangen, zu groß war die Angst, wieder zum Außenseiter gemacht zu werden. Da wählte er diesen Weg lieber aus sich heraus.

Eben setzte der Jungdrache an, einen weiteren hoppsig - wackeligen Schritt in Richtung Gras und weg von der Hecke zu machen, als jenes Gefühl, das sich seit seiner Ankunft in ihm breit gemacht hatte, mit einem Schlag stärker wurde. Jenes Gefühl, dass ihn hergezogen hatte. Eigentlich war es Wissen, jenes Wissen, hier den fehlenden Teil seiner Seele zu finden. Und mit einem Mal schien dieser Fleck in seiner Brust, der ihm immer wie ein gähnendes schwarzes Loch vorgekommen war, heller zu werden. Beinahe vergaß er dem Schmerz in seinem Fuß. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah am Rand der Dornenbüsche einen jungen Mann stehen, der in seine Richtung starrte. Viserion verharrte und ebenso schien alles um ihn herum still zu stehen. Auf seiner Reise von Vandrigg hier her hatte er gelernt, dass die meisten Zweibeiner Drachen mit Angst oder zumindest Misstrauen begegneten. Und so versuchte er sich nur ganz langsam zu bewegen, als er den Kopf schief legte und mit der gespaltenen Zunge vorsichtig die Luft schmeckte, um eine Ahnung von dem Geruch des Fremden zu bekommen.
Dieser verharrte nach wie vor an der selben Stelle und würde der Drache nicht am Heben und Senken des Brustkorbs eine Atmung erkennen können, er hätte ihn für ein Standbild halten können. Doch er war lebendig und Viserion, der ansonsten jedem Wesen, gleich welcher Art es angehörte, mit einem gewissen Misstrauen begegnete, stellte verwundert fest, dass er dem jungen Mann vertraute, auch wenn der noch kein Wort zu ihm gesagt hatte. Ein Umstand, der ihn verwirrte. War der Dorn in seinem Fuß etwa giftig und vernebelte seine Sinne? Ein weiterer Grund, das verdammte Ding los zu werden. Kannst ... kannst du mir helfen? sandte er eine telepathische Botschaft. Ob er wohl verstanden wurde?
//// Du bist wie Sterne und Eis, dachte Teiresias zuerst, fühlte sich, als wäre er ein Verdurstender an einer Quelle, sehnend, schmerzlich wie Lachen unter Tränen. Wunderschön, umwerfend … die Adjektive wehten durch seinen Kopf wie Schneeflocken am Anfang des Winters, selbst als der Drache zu hopsen begann. Diese Kontraste, weich und hart, glatt und rau – doch als Teiresias begriff, dass der Weiße mit dem Gestrüpp regelrecht kämpfte, dessen Federn sich immer wieder in dem an anderer Stelle zugreifenden Astwerk verfingen: fiel er schlagartig aus seiner Träumerei heraus.
»Kannst ... kannst du mir helfen?«, nicht in seinen Ohren, sondern in seinem Kopf. Niemandem sonst hatte der Halbdrache je anvertraut, dass er sich sich gedanklich unterhalten konnte, war sein Gegenüber dazu ebenso fähig. Es war für einen wie ihn so einfach in Bildern zu sprechen, Gefühle auf einen anderen überlaufen zu lassen, der empfänglich dafür war, Worte in die Luft zu werfen.
Teiresias zog jedoch als erste Reaktion beinahe die Schultern bis zu den spitzen Ohren.
Er konnte jetzt niemals so tun, als ob er nichts vernommen hätte. Es machte ihn lediglich etwas sprachlos. Doch er nickte. Es drückte mehr aus, als ein Wort. Der Jungdrache wurde verstanden. Ehrfürchtige Scheu und Neugierde in Teiresias. Ärger auf sich selbst, dass er nicht von sich aus zur Hilfe geeilt war. Er stand dabei längst nicht mehr wie angewurzelt, man brauchte nur einen einzigen Augenaufschlag, keine Atemzüge zählen, bis er der Frage nachkam.

„Ja“, dann aus Gewohnheit laut.
Seine Aufmerksamkeit gehörte allein dem Drachen. Sehr respektvoll trat er näher, richtete den gespaltenen Blick gen Boden, und konnte dabei zu seinem Leidwesen sein Hinken nicht ganz verhehlen, denn dazu war der Untergrund viel zu uneben. Denn viel lieber wollte er wie die Wellen sein, die sich über die Oberfläche eines Sees breiten, wie die Wolken, die der Wind treibt und wie die Kreise, die das Windrad dreht. Dabei kam er immer näher und schalt sich einen Narren.
So nah. So nah wie noch nie einem der anderen Drachen hier auf dem Drachenfelsen.

Ein Tag gab nie preis, was er für einen bereit hielt. Das Schicksal spielte, so wie Teiresias es kannte, mit seinem Glück und Unglück. Wahrscheinlich war es gut, dass er nie voraussagen konnte, was geschehen würde. Das Leben webte seine eigenen Muster, wie er wusste: er hatte nicht die Fäden in der Hand. In seinen Fallstricken verfing er sich nicht zum ersten und letzten Mal und welche Pläne er auch immer entwarf, sie würden sich in seinen Händen verdrehen und verwirren; dennoch wollte er sich stets im Klaren darüber sein, weshalb er etwas tat und weshalb ihm etwas getan wurde: er wollte das. Er wollte das so sehr. Diesem wunderbaren Geschöpf nahe kommen, ihm helfen, selbst wenn dies bedeuten sollte sich in Gefahr zu bringen.
Leichtsinn hat ein kurzes Leben, kamen ihm Mutters tadelnde Worte in den Sinn; auf der einen Seite war Teiresias natürlich überzeugt, dass die Drachen des Ordens keine hilfsbereiten Zweibeiner verschlangen … doch andererseits: was war eine mickrige Kuh für einen hungrigen Scharfzahn?

"Es ist alles gut", bat er anklingend, wohl mehr zu sich selbst, und aus purer Unsicherheit verfiel er in die Sprache seiner Kindheit, als er schon nach den ersten Zweigen griff und diese auseinanderzog.
Seine dicke, dunkle Hose war für die Stallarbeit gemacht und trotzte den Dornen, zumal die hochschaftigen schweren Schuhe wie dafür geschaffen schienen jene zu Boden zu treten. Nahm er nun noch die rauen Ärmel seines braunen Leinenhemds zur Hilfe, indem Teiresias sie über die Hände zog, dann bekam man den dornigen Busch einigermaßen unter Kontrolle.
»Naetheb enni«, entschuldigte er sich dabei fortwährend, es tut mir leid, tutmirleidtutmirleidtutmirleidtutmirleid, wenn ellenlange, schimmernde Federn zu Boden fielen.
Zuletzt stellte er seinen Körper gegen die zurückschlagenden Äste, um den Weißen davor zu beschützen und hatte keine Wahl mehr: als so auch stehen zu bleiben. Jetzt war es an ihm gefangen zu sein. Der Dornenbusch war wohl auf Beute aus und hatte sich nun in seine Kleidung verkrallt, auch wenn Teiresias sich nichts – außer einem irritierten Blinzeln – anmerken lassen wollte.


Naetheb enni – Es ist mir voller Leid
Der junge Mann kam mit ehrfürchtig gesenktem Blick auf Viserion zu. Der Jungdrache versuchte, so harmlos wie nur irgend möglich zu wirken, hatte er auf seiner Reise zum Drachenfelsen doch nur zu deutlich mitbekommen, wie ängstlich, zum Teil sogar latent aggressiv die Menschen und anderen Zweibeiner auf ihr reagierten. Erst hier, auf Aitheria und besonders am Drachenfelsen, hatte sich das geändert. Obgleich Viserion seinerseits den Blick senkte, registrierte er, dass der Mann leicht hinkte. Aber er sprach es nicht an. Er wusste, wie unangenehm es war, auf etwas hingewiesen zu werden, was einem von anderen unterschied. Nur zu oft hätte er seine roten Schuppen und Federn gern in blau oder weiß umgefärbt, seine Federn gegen Schuppen getauscht. Und doch wusste er, dass es nichts geändert hätte, er wäre immer ein Außenseiter in der Kolonie gewesen, ein unerwünschter Teil. Auch die geschwungenen Hörner, die seinen eigenen ein klein wenig ähnlich waren, erwähnte er nicht. Stattdessen versuchte er sich kleiner zu machen, was allerdings ob des verdammten Dornengestrüpps nicht wirklich möglich war. So ging er dazu über, sich so still wie möglich zu halten, um dem jungen Mann, der ihn mittlerweile erreicht hatte, seine Befreiung zu erleichtern – und ihn vor allem nicht zu ängstigen.

>Naetheb enni< „Es ist in Ordnung, du kannst nichts dafür! Es ist gut …“ Viserion wusste nicht, woher er wusste, was der Jüngling zu ihm sagte, warum er den Sinn der Worte erkannte, wo er diese Sprache doch zum ersten Mal hörte. So gut er konnte half er bei der Befreiung mit, indem er seine Flügel, sobald die letzten sie fest haltenden Äste entfernt waren, über den Busch hob. Aus der Entfernung musste es reichlich komisch aussehen und einen kurzen Moment hoffte er, dass keiner der anderen Drachen ihn so sah. Bis zu diesem Tag liesen sie ihn, seit er angekommen war, in Ruhe, beäugten ihn nur aus der Ferne. Ehrlicherweise musste er aber auch eingestehen, dass er ihnen aus dem Weg ging und sich nicht weiter um Gesellschaft bemüht hatte.

Aber in diesem Moment war der letzte Zweig, ein besonders dicker mit schrecklich fiesen Dornen, entfernt und erleichtert und beinahe refelxartig hopste Viserion nach hinten und aus dem pflanzlichen Ungetüm heraus. Allerdings vergaß er dabei auf den Dorn in seinem Hinterlauf und als er erneut darauf trat, schoss ihm brennender Schmerz durch den Fuß. Au! Nun war die letzte Chance dahin, das Ding selbst heraus zu bekommen, er würde nochmal Hilfe brauchen. Vielleicht … oh! Erst jetzt sah er, dass nun der junge Mann, der ihn befreit hatte, das nächste Opfer der garstigen Pflanze geworden war. Oh was für ein garstiges Grünzeug! Am liebsten würde der Jungdrache es mit eisigem Atem gefrieren lassen aber das würde seinem Retter nicht gut bekommen. Und allein bei dem Gedanken, dem jungen Mann etwas anzutun, krampfte sich sein Inneres zusammen als hätte er gammeliges Fleisch gefressen. Im Gegenteil, alles in ihm schien danach zu schreien, ihm zu helfen, der nun so festsaß wie er zuvor. Und aus irgendeinem Grund spürte der Jungdrache so ein Ziepen im Rücken, so wie zuvor an den Beinen und Schwingen. Irritiert sah er sich um, waren hier etwa auch so fiese Pflanzen? Aber er konnte nichts erkennen.

Immer noch verwundert drehte er sich wieder dem jungen Mann zu, der nun seinerseits mit den Dornen rang. „Warte, nicht bewegen, sonst hält dich das Gestrüpp nur noch fester. Und bitte nicht fürchten! Ich … ich helfe dir! Aber nicht zappeln!“ Und dann nahm Viserion den Mann ganz vorsichtig am Kragen seines Hemdes und zog ihn aus dem Busch. Ebenso vorsichtig setzte er ihn vor sich auf den Boden.
Chills, chills
come racing down my spine
like a storm on my skin


//// Es war schon seltsam die Gedanken als Worte in seinem Kopf hören zu können und doch erschien es Teiresias als das normalste Gespräch, das er je geführt hatte. Obwohl es nur wenige Worte waren, schwangen darin Gefühle mit – die sich mit den seinen verwoben und schon glaubte er beschwichtigt ebenso: es war in Ordnung. Er brauchte sich nicht entschuldigen, er brauchte nur helfen. Ihm kam es vor, als habe diese Zusammenarbeit Masse und Gewicht, als schlösse sie sich um ihn und zwängte ihn wohlwollend ein. Der junge Halbdrache wurde nämlich zu Flügeln, zu Schuppen, zu Krallen.
Er wurde zu Schmerz. In seinem Fuß – und keuchte hörbar auf.
Der weiße Drache war nach hinten gesprungen, kaum dass sich der letzte Zweig gelöst hatte, und in diesem Moment, jäh, unerwartet: spürte Teiresias Schmerz in seinem Fuß, der seinen Blick nach unten zog, um seine Sohlen zu begutachten. Obwohl er dabei etwas schwankte, hielten ihn die Dornen in seinem Rücken aufrecht. Vermochten sie einen Drachen in Bedrängnis zu bringen, sollte so ein schmächtiger Kerl, wie er einer war, kein allzu großes Problem darstellen.
Allerdings konnte er dort nichts erkennen, was durch das Leder gedrungen hätte sein können, schmutzig, aber unversehrt sah es darunter aus. Mh. Zuletzt stand er wie von Wind und Wetter aus Stein gemeißelt und sah zu dem Drachen auf, der sich ihm zuwandte.

Seine Welt war nun hämmernd durch seinen Puls. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet, dass es so schwer werden würde, einem Drachen gegenüber zu stehen. Und doch so leicht. Denn in seinem Körper wohnte ein Geist, der ebenso stark, wie wild war, ganz gleich, was sein junges Äußeres Glauben machen wollte: verwegen und voller Willenskraft. Teiresias vermochte sich schnell auf eine Situation einzustellen.
„Ich hab keine andere Wahl“, antwortete er auf die Warnung. Aber er fürchtete sich nicht. Nicht mehr. Regelrechte Faszination. Eine prickelnde Regung, die schließlich besser war als Furcht.
Sein Lächeln war etwas zittrig und schief, als er sich am Kragen aus dem Gestrüpp gehoben fühlte, ein seichtes Zerren an seinem Hemdstoff, ein wenig Kratzen und sanft wurde er wieder abgesetzt. Er hatte nicht gezappelt.
»Danke.« Von Halbdrachengeist zu Drachengeist. Und der Schmerz in seinem Fuß, den er ohnehin nicht einzuordnen gewusst hatte, war vergessen.
Der Augenblick war beinahe körperlich: die Landschaft gesprenkelt von Nadelspitzen aus warmem und gelbem Licht, der aufsteigende Geruch der getöteten Kuh, das feuchte Schimmern des Grases, selbst das zarte Schimmern der Schuppen vor ihm, die Umrisse bemalt von der Sonne. Für Augen und Nase. Für Augen, die nun von den sich öffnenden Lidern offenbart waren.

Seine Lippen waren leicht geöffnet und seine Fingerspitzen streckten sich irgendwie von selbst nach vorne aus, und Teiresias konnte dieses kleine Geräusch nicht verhindern, eine leise Äußerung hilfloser Sehnsucht. Hatte er geglaubt, man könne ohne Flügel nicht hoch fliegen, hatte der Halbdrache nun Furcht zu fallen. Eine Bö, die ihn höher trug, um ihn in eine Weite zu schleudern.
Teiresias wollte, was jetzt war. Er wollte sein Leben leben und nicht darüber nachdenken, woher es zu ihm gekommen war. Atevora hatte einen Drachenbegleiter bei ihm gesucht, er hatte diesen Gedanken zu leicht abgetan … Er wollte das, was es ihm hier jeden Tag bot, während er gleichzeitig wusste, es war unmöglich. Er war nicht so, wie die Reiter, die er im Hof beobachtete und auf die er in den Ställen traf.
Eine Handbreit vor dem weißen Gefieder hielt er inne.
„Darf ich?“, fragte der Junge schüchtern, dich berühren? Es würde ihm sehr viel bedeuten. Nur ein Mal, nur ein einziges Mal. Höflich wartete er ab. Teiresias hatte es nie gemocht, wenn man seine Hörner anfasste, ohne dass er vorbereitet war, oder eine Hand in seinem Gesicht, die über die Schuppenhaut strich.
Es hätte ihm auch vollauf genügt, den Drachen zu betrachten, alle Federn zu studieren. Einen Befiederten hatte er unter all diesen Flüglern noch nie zu Gesicht bekommen, es musste eine ganz eigene, besondere Art sein.
„Welches Element ist das deine?“, obwohl es ihm im selben Atemzug klar war, in dem er es laut ausgesprochen hatte.
Die Welt um den weißen Drachen schien still zu stehen, als er Aug in Aug mit dem jungen Mann auf dieser Lichtung stand. Wie bei einem Mosaik schien sich in seinem Inneren ein weiteres Steinchen ins Bild zu fügen, das seit seiner Ankunft am Drachenfelsen immer kompletter zu werden schien. Vergessen war für den Moment der Dorn im Fuß, der Hunger und die Kuh hinter ihm. Regungslos verharrte er, als der Jüngling seine Hand in seine Richtung hob. Das begleitende Geräusch konnte er nicht deuten, was wollte sein Gegenüber ihm sagen? Nur eine Handbreit vor seinen Federn verharrten die Finger, schwebten in der Luft, fragend, unsicher. >Darf ich?< Der Mann sprach leise, für viele andere Wesen wären seine Worte wohl nur schwer zu hören gewesen. Doch Viserion hörte die Worte nicht nur, er vernahm ihren Klang auch in seinem Kopf. „Bitte …“ zur Bekräftigung neigte der Jungdrache sein Haupt und streckte dem Jungen seine Schwinge entgegen, gerade soweit, dass die Federn leicht dessen Fingerspitzen berührten. Auch für ihn war es das erste Mal, dass ein Zweibeiner seine Flügel berührte und ein wenig schneller schlug sein Herz schon dabei. Bis zu diesem Moment wäre solche eine Berührung für ihn undenkbar gewesen, waren die Federn doch um ein Vielfaches empfindsamer als seine Schuppen oder Hörner. Aber in diesem Augenblick erschien es ihm einfach richtig, ganz als wäre gar keine andere Reaktion möglich.

>Welches Element ist das deine?< wieder sprach der junge Mann die Worte laut aus, er schien sich der Möglichkeit zur rein gedanklichen Kommunikation nicht wirklich bewusst zu sein. „Wasser“ antwortete der junge Drache. „Ich komme von Vandrigg, von der Insel, die Gröngaard genannt wird. Mein Name ist Viserion. Wie …. Wie wirst du genannt?“ fragte er ein wenig zaghaft. In der Kolonie hatten Fragen ihm meist Ärger eingebracht, hier aber waren bis jetzt aber alle freundlich (Zweibeiner) oder zumindest nicht feindselig (die anderen Drachen) gewesen. Warum sollte es bei diesem hier nun anders sein? Und er wollte sich sehr gerne mit jemandem unterhalten, tief in seinem Herzen war er die ewige Einsamkeit, auch wenn er unter anderen Drachen war, so leid. Interessiert musterte er sein Gegenüber. Aus der Nähe fielen ihm die Schuppen auf, die sich in einem, wie er fand, anmutigen Bogen über das Gesicht des Zweibeiners zogen. Auch die Augen waren seinen eigenen in gewisser Weise ähnlich und diese Hörner …. Vorsichtig schnupperte er an diesen ohne sie jedoch zu berühren. Der Mann war den Menschen, die er bis jetzt gesehen hatte, ähnlich und doch so anders. Und ihm auf seltsame Weise so vertraut. „Wer … was bist du? Bist du … bist du der … der Eine?“ Hätte er diese Worte laut ausgesprochen, wären die letzten nicht mehr als ein zaghaftes Hauchen gewesen. Unsicher, kaum gewagt ausgesprochen zu werden. Viserion wagte es nicht zu hoffen, war er doch erst seit kurzem hier und selbst wenn er Jahre auf diesem Felsen leben würde, würde er nicht zu hoffen wagen, dass sein Traum wahr werden würde. Der Eine … so hatte der alte Drachenveteran es genannt, jenes Wesen, dass sein Seelenpartner war. Der Jungdrache konnte sich nicht wirklich vorstellen, was alles damit zusammen hing, aber es musste wunderschön sein, so jemanden zu haben, nie mehr allein, ungewollt zu sein.
//// Der Rhythmus seines Atems verwob sich langsam mit dem des Geschöpfs vor ihm, ohne dass es ihm auch nur im Ansatz bewusst war, und wurde ihm schließlich zu einem leisen, beruhigenden Gesang. Eine seltsame Sehnsucht regte sich in dem jungen Halbdrachen, als täte er gerade einen Blick auf etwas, das er niemals besitzen konnte und von dem er nie zuvor gewusst hatte, dass er es würde besitzen wollen.
»Bitte.« Ein wunderbares Wort. Die Elbin hatte einmal zu ihrem Sohn gesagt, dass ein Wort genügen würde, um das Verhältnis zu einem jeden Ding zu verändern, ein Wort nur konnte alles zerstören oder retten: er müsse auf jeden Fall lernen seine Zunge im Zaum zu halten.
Da kam ihm ein Flügel sogar entgegen. Sanft berührten seine Fingerspitzen die weiße Zartheit. Es vernebelte Teiresias beinahe die Sinne, es beruhigte diese allgegenwärtige kratzende Unruhe, weil es sich so richtig anfühlte.
Gerüchte starteten mit einem Wort, großer Schmerz oder es wurden Kriege damit begonnen, hatte seine Mutter gesagt. Und vielleicht auch Freundschaft, glaubte Teiresias nun zu wissen, als seine Hand mutiger über die Länge einer Feder strich. Es fühlte sich so weich und warm und unbeschreiblich kostbar an.
Um hier mit einem Drachen zu stehen, dachte er bei sich, brauchte man das Herz eines Kriegers und Nerven wie dessen Schwert … er hatte gerade beides nicht. Die Welt drehte sich auf den Kopf, krümmte sich, dann wieder in den richtigen Zustand zurück. Irgendwie fühlte er sich merkwürdig dabei, als läge seine Haut offen und sein Innerstes offenbart. Der Sog des Lebens war kraftvoll, auch wenn Teiresias nicht auf diese Art damit gerechnet hatte.

Als er die Hand zögernd zurückzog wirkte er sogar etwas verlegen. Manchmal wurde das Sein eben transparent und dann schimmerten vergessene Wünsche und Ängste durch die Haut eines jeden, so war es wohl auch bei ihm gewesen. Teiresias knautschte seine Hände nun aufgewühlt ineinander – mussten sie sich aneinander festhalten, um nicht erneut die Berührung zu suchen.
Er lächelte über sein eigenes Staunen und seine Augen glänzten wie unter Fieber, als er aufsah und seinerseits den schlanken Drachen betrachtete, dessen Gestalt umrandet war von dem eigenartigen Flirren dieser eisblauen Drachenaugen. Seine Ruhe kehrte allmählich zurück, obwohl seine Muskeln noch unter einer angenehmen Anspannung standen; der Augenblick war gleichermaßen von Süße und Beklommenheit erfüllt, als Teiresias dessen Neugierde begriff.
Die genannten Länder sagten ihm jedoch nichts, wenn auch eine Insel ihm für einen Wasserdrachen außerordentlich passend erschien. Er fragte sich kurz, was er antworten könnte, ohne dumm zu erscheinen.
„Guten Morgen, Viserion“, meinte er daher nur, weil er seine Unkenntnis über die Welt nicht preisgeben wollte. Angefüllt mit Höflichkeit deutet er eine Verbeugung an. Er hatte wieder Boden unter den Füßen. „Mein Name ist Teiresias.“
Tei lachte, denn die Luft aus den Nüstern kitzelte ihn.
„Möchtest du denn nicht lieber Fisch fressen, Viserion?“, seine Hand tat einen Wink zu der Kuh hinüber, bereit sofort loszusprinten, um das Gesagte zu besorgen, als er inmitten der Bewegung erstarrte ...

»Wer … was bist du? Bist du … bist du der … der Eine?«
Angst war doch ein unnützes Ding, wie Schlangen, die einen in den Bauch bissen. Teiresias' Herz zog sich für einen Atemzug an einen sehr stillen Ort in ihm zurück. Einen Moment lang wurde ihm schwindlig, als würde der Boden unter ihm tanzen. Seine Herkunft schien stets über ihm zu kauern wie ein unermesslich erdrückendes Geschöpf … Nie könnte er davon ganz frei sein, immer wieder müssten seine Gefühle aus vielen Wunden bluten.
Dann raffte der junge Mann all seinen Mut zusammen, auch wenn er den geschlitzten Blick abwandte und es nicht mehr wagte Viserion anzusehen. Er würde bewahren, was nicht sein sollte. Seinen Mund zu öffnen war dementsprechend schwer, seinen Augen geriet die Sicht außer Kontrolle, flimmernd lag die Lichtung vor ihm … wie stets, wenn er sich erregte. Nun.
Monster, Drachen-Balg, Halbblut ...
„Ich weiß nicht, was du damit meinst“, er blinzelte, spürte er sein Herz, spürte den harten Schlag bis hinauf in den Hals und es ließ sich gewiss nicht beruhigen. „So etwas wie mich nennt man Halbdrache“, würgte er hervor und ging davon aus, dass sich der weiße Drache nun angewidert abwenden würde. „Ich weiß schon …“, nichts habe ich mit einem so stolzen Geschöpf wie dir gemein, „du brauchst nichts weiter zu sagen.“
Teiresias straffte seine Schultern, da schon im Begriff sich umzuwenden und zu gehen, die Schmach zu ertragen. Der Fuß tat gar nicht mehr so weh, war er durch die Aufregung in Vergessenheit geraten und doch war es so, dass er die ersten Schritte: humpelnd tat – der Krallenfuß ihm mal wieder in die Quere kam. Es waren Wut und Verzweiflung, die sich in seinen Bewegungen die Hand gaben, und das Feuer in ihm anfachten, weil Tränen nicht annähernd genug wären.
Hatte er etwas Falsches gesagt? Vor Schreck hielt der junge Wasserdrachen den Atem an, als der Zweibeiner, der sich als Teiresias vorgestellt hatte, sich abrupt abwandte und eine seltsame Mischung von Emotionen über ihn hinweg zu branden schien. Reflexartig zog Viserion den Kopf ein. Eben noch hatte er das Gefühl gehabt, dem Ziel seiner Reise einen kleinen Schritt näher gekommen zu sein und dann war es ihm, als hätte einer der eisigen, stürmischen Winde, die er aus seiner Heimat nur zu gut kannte, ihn zurückgeweht, weit zurück. So war es ihm als Drachenkind ergangen, als er, das einzige Mal in seinem Leben, der Verzweiflung über dem Makel, ein Zwillingsdrache zu sein, nachgegeben und versucht hatte, die Kolonie zu verlassen. Sein Ziel war eine kleine Insel vor der Küste gewesen, in der Hoffnung, seinen eigenen Ort der Ruhe zu finden. Er hatte sie gesehen, es waren nur mehr wenige Hundertschritt gewesen aber was er nicht gewusst hatte: An der Küste jenes Eilandes trieben tückische Winde ihr hinterhältiges Spiel. Er war bei weitem noch nicht so stark gewesen wie er jetzt war und immer wieder trieben ihn die Gewalten zurück über das Meer, sein Ziel immer im Blick und doch unerreichbar. Einige Kerzenstriche kämpfte Viserion gegen die Naturgewalten an, doch als der Abend graute musste er erschöpft aufgeben und nur mit allerletzter Kraft schaffte das Drachenkind es zurück zur Kolonie, zurück zur verhassten und doch einzigen Heimat die er kannte und hatte. Den Kopf vor Schmach gesenkt, die Flügel ob der Müdigkeit hinter sich her schleifend war er zum elterlichen Hort geschlichen und hatte sich ganz am äußersten und zugigsten Rand zusammengerollt. Die Erwachsenen hatten ihn nicht beachtet, wie immer eigentlich, auch wenn die Mutter mitunter hinüber geschielt hatte. Er wusste nur nie, ob aus Interesse oder Sorge um ihn oder um zu bedauern, dass er noch da war. Sein Magen knurrte, er hatte den ganzen Tag nichts gefressen und er war sich schon sicher, dass er, wie so oft, hungrig einschlafen würde müssen, als drei mickrige Fische vor seine Nase geschoben wurden. „Wie dein Magen knurrt kann ja keiner schlafen, das ist ja nicht auszuhalten!“ keifte seine Zwillingsschwester und als er den Kopf hob hatte sie sich schon wieder auf ihren gemütlichen Schlafplatz getrollt. Aber das war von je her ihre Art gewesen, ihm zu zeigen, dass ihr Zwilling ihr nicht zur Gänze gleichgültig war. „Danke!“ Die einzige Reaktion, an der er merken konnte, dass sie seine Stimme in seinem Kopf gehört hatte, war ein Blinzeln der Nickhäute über den stechend gelben Reptillienaugen.

Die Erinnerung an jenen Tag übermannte Viserion, während er Teiresias nachsah, als der sich anschicke weg zu gehen. Zuvor hatte er es nicht bemerkt, aber der Mann humpelte und voll Schreck überlegte der Drache, ob er sich verletzt hatte, als er ihn befreit hatte. Das war nicht richtig, es war nicht richtig, dass er Schmerzen hatte, und vor allem war es nicht richtig, dass er ihn verließ. „Bitte bleib!“ rief er ihm mit leiser Gedankenstimme nach, in der Unsicherheit, Traurigkeit und auch ein Hauch Verzweiflung mitschwangen. Keinen Gedanken verschwendete er mehr an die Kuh, es war ihm egal, wenn sie sich ein anderer Drache holte, sollte er sie unbewacht lassen. Er wollte nur, dass der …. Wie hatte er sich genannt? … Halbdrache … bei ihm blieb. Was war das überhaupt, ein Halbdrache? Hatte er deshalb so hübsche Hörner und Schuppen? War er ihm ähnlich? Aus einem Instinkt wollte Viserion dem jungen Mann folgen, trat dabei erneut auf den vermaledeiten Dorn und biss tapfer die Zähne zusammen. Auch das Mistding war gerade egal, der Schmerz nur ein Echo am Rand seiner Wahrnehmung, überschattet von den aufgewühlten Gefühlen seines Gegenübers. „Habe ich dich beleidigt, etwas Falsches gesagt? Bitte verzeih mir …“
//// In dessen Augen stand ein Ausdruck, den Teiresias nie zuvor gesehen zu haben glaubte. Natürlich. Wenn es einen Weg gäbe, würde er sich seine Hörner aus dem Schädel reißen, die Schuppen von der Haut kratzen, er wünschte, er könne diese bedauernden Blicke mit seinen Händen zurückhalten. Aber er hatte ja nicht richtig hingesehen, ansonsten hätte er anderes gesehen, als er unterstellte. Hätte er nur einmal richtig geschaut, dann hätte er gesehen, dass Viserion kaum weniger Befürchtungen quälten als ihn selbst.
Und des Drachen Gedanken bescherten Teiresias zusätzlich die Besorgnisse, die jener zu hegen schien … fast empfand der Junge es körperlich, was jener befürchtete, zerrte es ihn in eine Vergangenheit zurück, die er nie selbst erlebt hatte. Teiresias erschauderte; er wusste nicht, dass es Viserions Erinnerungen waren.
Denn er hörte nicht richtig zu.
Teiresias wusste nicht, was er mit dem Gedanken an stürmische Klippenwinde anfangen sollte, die ihm gerade in den Sinn kamen und weswegen ihn das Bild von drei mickrigen Fischchen vor dem inneren Auge gerade sehr traurig stimmten.
Doch derlei konnte seine Stimmung nicht tiefer drücken, als er sich bereits fühlte – dieses Gewicht seines Äußeren lag wie eine schwere Last auf seinen Schultern mit der er gen Innenhof schlurfte, während sich seine Finger im eigenen Hosenstoff verfingen, als suchten sie da einen letzten Halt.
Er wusste, wie es wirklich aussah. Verhielt er sich wie ein trotziges Kind, das die Schultern hochzog und nun auch noch davonlief. Es machte alles doch nur immer schlimmer, als wenn er das Kinn gereckt und zu seinem Aussehen gestanden hätte.
»Bitte bleib!«
„Ja?“, schniefte er, als ihn die mentale Stimme erreichte. So eindringlich, voller Kummer – waren es mehr die Gefühle darin, die ihn zurückzogen. Wie gern er bleiben wollte, war es ein Ruf, dem er nur zu gern folgte.

Ja!
Viserion mochte vielleicht hören, wie Teiresias tief Atem holte, um etwas zu sagen, doch im nächsten Augenblick fauchte der Schmerz erneut in seinem Fuß und schickte an diesem einen Wort entlang seinen Geist zurück zu dem weißen Drachen wie ein Anker, der an seiner Kette über das Wasser geworfen wird und versinkt, um in den Wellen einen Ruheplatz zu finden.
Ohne zu wissen, was er da gerade eigentlich tat: flog sein Geist wie ein Drache dem anderen entgegen und hoffte nicht einmal darauf, dass er wie auf einer Welle aufgefangen wurde, während er nach dessen Wesen tastete. Unbewusst in der Hoffnung, dass der Gigant ihm Einlass gewährte, um ein stilles, beschneites Stück in dessen gleichmütiger Tiefe zu finden, während Teiresias plötzlich mitten hinein in ihre ureigene Empathie trat.
Viserion war oft unsicher, das glaubte der Halbdrache zu spüren, und darunter voller sanftmütiger Furcht – aber voller Kraft. Jener könnte ihn mental mit Leichtigkeit abwehren, das wusste Teiresias, als er den unerschöpflichen Kraftquell in dem Wasserdrachen entdeckte.
Der Junge mit den Drachenmerkmalen erstarrte in der Bewegung, während seine Augen aufrissen. Er wusste nicht nur um das Band, den Strang – um den Dorn, der im empfindlichen Fleisch steckte.

Seine Hände umfassten den jeweiligen Ellenbogen des anderen Arms. [Farbe]Ich denke, ich kann helfen[/font], sagte er schließlich und kam zurück zu Viserion: zielgerichtet zum linken Hinterfuß.
Woher stammt diese Verbindung zwischen uns?, fragte er sich, als er auf den Hinterlauf sah, von dem er ganz genau wusste, dass hier ein Dorn zwischen den Zehen steckte.
Es gibt nichts zu verzeihen, antwortete Teiresias; er musste sich noch zu sehr konzentrieren, um in Gedanken zu sprechen. Ich habe nie Schöneres gesehen, als dich.
Er schwieg einen Moment, als er sich beugte, um an dem Bein wie bei einem Pferd entlangzustreichen, um dann das Gelenk kräftiger in die Hand zu nehmen. Es war ein Versuch wert, es ebenso bei einem Drachen zu tun. Du hast nichts Falsches gesagt. Das war die Wahrheit. Ruhe bewahren, um Ruhe auszustrahlen, um Ruhe zu vermitteln.
Teiresias begriff jetzt, dass Viserion nicht wusste, wie man außerhalb des Drachenfelsens auf sein Äußeres reagierte. Es war nicht richtig von ihm gewesen ihn ohne eine Erklärung stehen zu lassen. Er hätte mittlerweile wissen müssen, dass sich hier alles anders verhielt. Womöglich hätte er sich früher den Drachen im Hof nähern sollen; vielleicht hätte er dann früher von seiner Begabung, mit ihnen sprechen zu können, erfahren.
„Ich muss dich bitten mein Verhalten nicht zu verurteilen“, sagte Teiresias kleinlaut, „denn es war aus Erlebtem geboren. Allerdings habe ich mich bisher noch nie mit einem Drachen unterhalten – ich weiß nicht, wie man unter euch über Halbblütler denkt und spricht.“
Seiten: 1 2