Lost Chronicles

Normale Version: Das Flüstern der Blätter
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Dorothea

Das Jahr war noch so jung, und doch schien die Sonne herrlich warm vom strahlend blauen Himmel herab. Hin und wieder strich ein kalter Wind über die Gärten und Gebäude des Schlosses. Vögel zwitscherten und sangen, ganz beschäftigt damit, den Frühling willkommen zu heißen. Die Frühblütler bildeten schon Knospen an ihren Zweigen. Erste Blumen reckten ihre Köpfchen dem Licht entgegen. Überall schien das Leben zu erwachen.
Dorothea liebte diese Jahreszeit. Sie liebte das Gefühl, dass all diese Eindrücke in ihr auslösten. Die Luft war frischer, die Farben intensiver, ihre alten Knochen vergaßen alle Wehwehchen für eine Weile. Jedes Mal aufs Neue fühlte sich der Frühling an, als würde es das beste Jahr des Jahrzehnts werden. Als wäre alles möglich, wenn man sich nur dazu entschied, los zu ziehen und die Welt zu sehen.

Naja, die Welten hatte sie ja schon gesehen. Mit vielem Guten und vielem Schlechten. Mit aufgeplusterten Jünglingen und gutherzigen Greisen. Was sie noch nicht kannte, waren jedoch Bäume, die keine Bäume waren.
Um das zu ändern, hatte sie sich nach dem Mittagsmahl dazu entschlossen, endlich dieser Kuriosität nachzugehen, die ihre Nichte da entdeckt hatte. Es interessierte sie brennend. Mehr noch als das Buch über ein Artefakt aus Vandrigg, welches zum Teleportieren benutzt werden konnte, welches über eine Bekannte eines Bekannten von Endriks Cousine zu ihr gefunden hatte.
Trotz des spannenden Themas war es so sterbenslangweilig geschrieben, dass die alte Dame sich nicht mehr hatte überwinden können, auch ihren Nachmittag damit zu verbringen. Daher hatte sie ihre praktische Teekanne eingepackt, dazu zwei Tässchen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie die zweite wirklich gebrauchen würde. Das hing sehr davon ab, wie dieses Wesen war, das dort unten am See lebte. Die Teekanne war ein Geschenk ihres alten Freundes Juna gewesen. Eigentlich war es mehr eine breite Flasche, welche mit einer doppelten Wandung und eingewebter Magie dafür sorgte, dass der Inhalt schön warm blieb. Und dass man sich die Finger nicht an der Außenseite verbrennen konnte. Sie erinnerte sich noch zu gut an einige Vorläufer der Modells, welche wahrlich nicht sehr praktisch gewesen waren.

Mit diesem Erinnerungen an frühe Fehlschläge kam sie lächelnd am See an. Genauer gesagt, an einem alten Baum. Mit Caspar hatte sie damals auf eben jenen Ästen geklettert. An einem Abend, an dem sie nicht hatten heim gehen wollen, hatten sie sich hier sogar versteckt.
Etwas, dass auch ihre Kinder getan hatten. Oder waren es deren Kinder gewesen? Dorothea wusste es schon gar nicht mehr.
Aber für sie sah der Baum einfach nur aus, wie ein alter Baum. Etwas schief, als wolle er sich übers Wasser recken. Perfekt, um sich von dort ins kühle Nass plumpsen zu lassen, wenn man sich bei einem solchen Fall noch nicht alle Knochen brach.
Ein ganz normaler Baum? Na mal sehen.
Die alte Dame setzte sich nicht direkt an den Stamm, sondern ganz untypisch etwas davon entfernt und ihm zugewandt. Noch fiel ihr keinerlei Veränderung auf. Richtig war sie hier aber schon, oder? Sie packte ihre Mitbringsel aus und sprach: "Ach, ich hab so wundervollen Tee dabei. Und sogar zwei Tassen! Nur bin ich hier ja ganz allein. Wie schön es doch wäre, wenn es ein Wesen gäbe, mit dem ich dieses ganz besondere Getränk teilen könnte."
Thea füllte die erste Tasse, und nach kurzem Zögern, schenkte sie auch in die Zweite ein. "Vielleicht möchte dieser gute Baum ja einen Schluck haben?"
Er war wieder zurück und genoss die Sonnenstrahlen auf seinen Blättern, raschelte leise mit ihnen, weil er sich sicher und wohl am See seiner Freundin fühlte. Er stand wieder als mächtiger Baum am Ufer des Sees und dachte nach. Der eigentlich noch junge Ent brauchte seine Zeit dazu, wie für seine Rasse typisch war. Das Erlebte in der letzten Zeit musste er erst einmal verarbeiten und in dieser Form fühlte er sich besser. Ein wenig war er auch verunsichert, konnte dieses Gefühl aber weder zuordnen, noch irgendwie beschreiben, er fühlte es zum ersten Mal bewusst. Aber er hatte niemanden bei sich, der ihm etwas erklären konnte, seine Freunde waren sicherlich in anderen Welten.

Tatsächlich ‚träumte‘ Nicus vor sich hin als sich ihm jemand näherte. Richtig träumen konnte er nicht, denn er schlief nicht. Er war nur ab und zu abwesend, nicht ganz da, wenn er so wie jetzt dachte. Denken konnten Ents, aber wichtige Entscheidungen treffen dauerte lange, vor allem wenn sie mit anderen Ents zusammen waren und sich verbunden hatten. Dahingehend war Simnicus aus der Art geschlagen, denn er hatte Jahrhunderte von seiner Art gelebt und die Wesen beobachtet, die zu ihm gekommen waren und von ihnen gelernt. Erinnerungen von selbst Erlebtem oder von dem was Ents untereinander teilen konnten, gingen jedoch niemals verloren. Ents hatten ein gutes Gedächtnis, man musste es nur manchmal an stupsen und durfte sie nicht ablenken.

Dann bemerkte er endlich die alte Dame, die sich an seine Seite gesetzt hatte und neugierig wie er war, konzentrierte er sich nun auf sie. Aber noch war er nicht neugierig genug um sich zu zeigen, doch das änderte sich, als die schon sehr alte Frau mit sich selbst sprach. Es formten sich schwarze Augen auf dem Stamm, nur waren sie noch nicht von ihrem Platz aus zu sehen. Sie wirkten wie aufgemalt, sie wölbten sich nicht heraus, dafür konnten sie sich bewegen und noch während sie die zweite Tasse ebenfalls mit Tee füllte, wanderte das Augenpaar zu ihr.

Nun waren sie auf dem Stamm zu sehen und auch zu erkennen, dass sie sich auf die zweite Tasse gerichtet hatten. Bei der Frage, ob er auch einen Schluck haben mochte, bildete sich auf dem Stamm, etwas unter den Augen, eine Art Spalte, die sein Mund wurde. „Ich möchte gern Tee haben, Nicus.“, antwortete er knarzig und dunkel und schaute nun die alte Dame an. „Was ist das für ein Tee, Nicus?“ Er war ein wenig aufgeregt, weil er glaubte eine neue Freundin gefunden zu haben. Wenn sie seine Freundin wurde, dann hatte er eine ganz alte, eine mittelalte und eine ganz junge Freundin. Nicus Mundschlitz formte sich zu einem Lächeln, so weit das möglich war. Dann erinnerte er sich noch rechtzeitig daran, was ihm Aßain gesagt hatte und so war seine nächste Frage ohne seinen Namen hinten. „Der ist noch heiß?“

Dorothea

Thea erschrak ein wenig, obwohl sie es doch erwartet hatte, als sich der scheinbar reglose Baum nun doch als lebendig herausstellte. Hach, wie schön! Und etwas befremdlich. Da bildeten sich im Stamm doch tatsächlich Augen und Mund heraus! Sie schienen auch genau die Funktionen zu haben, die ihre Form vermuten ließ. Ohren hingegen, die konnte sie nicht erkennen. Wie das Wesen wohl ihre Worte aufnahm?

Sie war sich nicht ganz sicher, was sie erwartet hatte, aber dies wohl nicht. Der Baum hatte ein Gesicht!
Schließlich lachte die alte Dame laut auf, amüsiert über ihre eigene Reaktion. Sie hatte ihn nun einfach wortlos angestarrt, ganz erstaunt und gebannt, obwohl das nun wirklich nicht höflich war.
"Hallo Herr Baum! Es freut mich, euch kennen zu lernen. Mir wurde von euch erzählt, und davon, dass ihr ein ganz wundersamer Gesell seid."

Sie nahm einen klitze-kleinen Schluck von dem heißen Getränk, bedacht, sich nicht die Lippen zu verbrühen, und erkaufte sich so ein paar Momente. "Das ist grüner Tee, lieber Herr Baum. Er wird Sencha genannt. Einer meiner Lieblingstees!"
Dass sie den Tee in eine Tasse gegossen hatte, kam ihr nun recht dämlich vor. Das Wesen ihr gegenüber schien besser damit bedient, wenn sie ihn einfach über seine Wurzeln goss. Wobei auch gar nicht solche Unmengen in ihre Teekanne passten, dass er damit wirklich beglückt werden könnte... Herrje. So recht hatte sie das wohl nicht durchgedacht.

Aber er schien auch nicht darauf bedacht, mit heißem Wasser begossen zu werden. "Genau, er ist noch ganz heiß! Sollen wir ihn erstmal etwas abkühlen lassen?" Sie lächelte das Wesen an. Kaum zu glauben! Da sprach sie doch tatsächlich mit einem Baum. Was Caspar wohl von dergleichen gehalten hätte? Es hätte ihn begeistert!
"Mein Name ist Dorothea Wailamereis. Ich glaube, meine Enkelin Atevora habt Ihr schon kennengelernt. Sie hat mir von euch erzählt." Geschwärmt könnte man es besser nennen. "Und wie darf man euch nennen?" Dass er seinen Namen tatsächlich schon gesagt hatte, verstand die alte Dame nicht. Sie hielt es für ... naja, vielleicht für eine Eigenart von Bäumen? Die taten das scheinbar, setzten einfach ein zusammenhangsloses Wort ans Ende des Satzes. Zumal sie nicht wusste, was dieses Wort bedeutete.

Thea dachte derweil darüber nach, was besagte Enkelin ihr noch erzählt hatte. Allerdings schien das meiste durch das Sieb des Alters wieder verschwunden. Dabei beobachtete sie, wie ein Vogel in den Kronen des Baumes landete und dort tat, was Vögel nun mal so tun in Bäumen tun. Es war kein Rabe, daher glaubte sie, dass es sich wirklich um ein echtes Tier hielt, und sogleich kamen ihr Fragen dazu in den Sinn. Wie es sich wohl anfühlte für den Baum? Bemerkte er die kleinen Vogelfüße überhaupt? Mochte er es, wenn sie über seine Äste hüpften, oder kitzelte das? Sicherlich mochte er den Gesang von ihnen, oder? Wurde er morgens davon geweckt?
Aber sie überflutete das Wesen mit keiner dieser Fragen, sondern wartete geduldig auf seine Antwort, während sie erneut einen kleinen Schluck des Tees nahm, der natürlich immer noch sehr heiß war.
Simnicus war sehr neugierig, wirklich sehr und das hatte ihn auf diese Welt geführt, als er noch ein kleiner Zwuckel gewesen war. Aber es hatte ihn auch zu neuen Freunden geführt, er hatte noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, was daran lag, dass er bisher nur freundlich gesinnten Wesen begegnet war. Und diese alte Dame mit ihrem Tee gehörte ebenfalls dazu, denn sie bot ihm doch tatsächlich eine Tasse Tee an! Und sie nannte ihn einen guten Baum. Nicus Mundschlitz formte sich im Baumstamm, etwas unterhalb seiner schwarzen Augen, die ebenfalls erschienen und zu der Frau gewandert waren. Ihr Lachen sorgte dafür, dass er noch stärker lächelte, auch wenn er nicht wusste, warum sie lachte. Aber er hatte bisher gelernt, dass wenn jemand lachte, er sich gut fühlte und fröhlich war und das mochte der Ent sehr.

Ihre freundliche Begrüßung und dass sie ihn wundersam nannte, gefiel ihm ebenso. Sogar so sehr, dass er selbst nun freundlich-fröhlich mit seinen Blättern raschelte. Dabei sei gesagt, dass es fast windstill war und selbst die gelegentliche Brise, die aufkam, nicht stark genug gewesen wäre für das Rascheln. Man hatte von ihm erzählt! Das bedeutete doch, dass sie seine Freunde auch kannte, denn sonst hatte ihn noch niemand länger gesehen. So lächelte er noch mehr und seine Freude stand ihm in den Augen geschrieben, die zwar schwarz wie die Nacht waren, aber in ihnen gab es Wärme und alle seine Gefühle konnte man ablesen. Nicht ganz so gut, wenn er ein Baum war, aber in seiner anderen Gestalt war es unglaublich leicht das zu erkennen. Die Frage nach dem Tee wurde ihm mit einem neuen Wort beantwortet. „Was ist Senntscha?“, fragte er deshalb sogleich nach, denn auch wenn es Tee sein sollte, wusste er nicht was es war.

Atewora. Seine mittelalte Freundin! Sofort schien das Baumgesicht vor Freude zu strahlen. „Meine Freundin! Sie liest mir vor.“, freute er sich immer noch und zählte in Gedanken die Sätze, die er sagte. „Ich habe den Namen Simnicus geschenkt bekommen. Mein Waschbärfreund nennt mich Nicus.“ Da er wusste, wie sein Name geschrieben wurde, konnte er ihn immer vor sich sehen, wenn er ihn sagte – im Gegensatz zu allen anderen Namen, die er hörte. Selbstverständlich bemerkte er den Vogel, der in seinen Ästen gelandet war und 'kommunizierte' mit ihm auf die Weise, wie es Ents taten. Das kleine gefiederte Wesen begann sich zu putzen, pickte einen Käfer von der Borke und verspeiste ihn.
Nicus selbst jedoch beobachtete Dorotea, dessen Name ihm bekannt vorkam. Aber es dauerte eine Weile, bis es ihm wieder einfiel und er voller Stolz herausplatzte: „Du bist Großmutter! Nein, Urgroßmutter. Aber man sagt Großmutter zu dir. Oder...“ Nicus schwieg, dachte sehr angestrengt nach, was man ihm ansah – trotz der Tatsache, dass er nur Augen und Mundschlitz zeigte. „Oder Dorotea, Nicus!“ Was war er doch stolz und strahlte sie an, weil er sich wieder erinnert hatte, was seine langjährige Freundin ihm erzählt hatte.